Letzte Woche hatte ich ein feines, zartes Mädchen in meiner Therapie. Ich kenne sie, seit sie ein sehnsüchtiger Gedanke ihrer lieben Mutter war. Inzwischen ist sie 14, grossgewachsen, sehr dünn, sehr zart. Wie eine Elfe. Das Bild wurde rasch gestört als ich die vielen Schnitte an ihrem Arm sah. Sie ritzt sich.
Es ist nicht das erste Mal, dass ich damit zu tun habe. Ich hatte vor Jahren eine junge Frau in der Therapie, schon in deren Dreissigern, deren ganzer Körper übersät war mit Narben. Eine Ausdrucksform von innerem Schmerz, der nach aussen sicht- und spürbar gemacht werden musste.
Diese hochsensiblen Menschen leben in unserer so rauen Welt wie Blumen, die bereits zittern wenn ein Wind kommt und dann von einem Lastwagen überfahren werden. Hochsensibilität ist eine Form unseres psychischen Lebens, das oft nicht rechtzeitig erkannt und dazu in den meisten Fällen einfach als Krankheit abgetan wird.
Etwa 15 bis 20 Prozent der Menschen gelten als hochsensibel. Ihre Wahrnehmungsfähigkeit ist überdurchschnittlich differenziert, zudem wird das Aussen in ihrem Inneren wahrgenommen und ebenso differenziert verarbeitet – oder eben erlitten. Ausserdem ist das Gehirn eines Hochsensiblen nicht in der Lage, die Reizüberflutung adäquat zu verarbeiten.
Ihnen fehlt damit die „dicke Haut“ an der vieles abprallen kann.
Andererseits verfügen Hochsensible über ein riesiges Potential an Intuition, Kreativität und Einfühlungsvermögen und können andere sanft unterstützen und begleiten. Dieses Potential wird oft nicht erkannt oder gefördert. Die Gesellschaft versucht, diese feinen Menschen in das Funktionieren zu zwingen und verlangt, sie mögen sich doch jetzt mal ein bisschen zusammen reissen und in den Griff bekommen. Schliesslich reissen wir uns ja alle zusammen.
Und hier liegt dann ja auch das Dilemma. Wir leben in einer rauen Welt. Schon vor hundert Jahren hat mein Lieblingsdichter, Rainer Maria Rilke, das formuliert:
Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort.
Sie sprechen alles so deutlich aus:
Und dieses heisst Hund und jenes heisst Haus,
und hier ist Beginn und das Ende ist dort.
Mich bangt auch Ihr Sinn, ihr Spiel mit dem Spott,
sie wissen alles, was wird und war;
kein Berg ist ihnen mehr wunderbar;
ihr Garten und Gut grenzt grade an Gott.
Ich will immer warnen und wehren: Bleibt fern.
Die Dinge singen hör ich so gern.
Ihr rührt sie an: sie sind starr und stumm.
Ihr bringt mir alle die Dinge um.
Wie ist unser Umgang mit unserer eigenen Sensibilität?
Wo lebst Du (noch) Deine innere Feinheit?
In den vielen Jahren meiner Tätigkeit als Coach, zudem als Mensch, sind mir viele begegnet, die hochsensibel und wunderschön waren. Und viele, die sich eine riesige steinerne Mauer gebaut hatten, um nicht verletzt zu werden.
Die dicke Haut adelt uns nicht – sie macht uns in Wahrheit schwach.
Weil wir dann falsch eingeschätzt werden, weil andere laut und grob sind, da sie das weiche Innere nicht sehen können und damit nicht so mit uns umgehen wie wir es eigentlich brauchen.
Eine Orchidee kann nicht in einem Kartoffelacker blühen. Ein Reh wird nicht inmitten einer Herde Wildschweine leben. Man muss die richtige Kultur wählen, um sich zu entfalten. Wohl dem, der Angehörige hat, wie meine kleine Elfe von letzter Woche, die einfühlsam sind und das Reh, die Orchidee, beschützen und sanft und aufmerksam in den eigenen Weg begleiten.
Achte doch in dieser Woche einmal, wie Du Dich ausdrückst und wie es die Menschen um Dich herum tun. Lebe Deine eigene Sensibilität wieder einmal vollständig aus. Kein Mensch wurde je aus Stein gemacht. Wir sind alle verwundbar und – empfänglich. Unsere Haut ist weich und durchlässig. Alles andere ist eine scheinbare Anpassung an ein hartes Aussen. In jedem Menschen gibt es aber bestimmt noch etwas von dem weichen Kern.
Achte auf Deine Wortwahl in der Woche, die nun beginnt. Ein Wort kann ein Geschenk sein, eine Lieblichkeit. Oder ein Pfeil oder ein Beil. Du hast immer die Wahl.
Willkommen in der Adlerperspektive.