Kürzlich hat eine liebe Freundin eine gewagte Aussage gemacht und dann gehört: „Das darf man doch nicht sagen!“.
Ach – darf man nicht?
In meiner kalten nordischen Heimat bekam ich als Kind gesagt: „Wenn Du nichts Nettes zu sagen hast, dann sag lieber nichts“.
Wir wurden alle zum Lügen erzogen. Oder zumindest: Zum Verschweigen.
Weil es einen moralischen Kodex gibt, der uns ein kleines, gepflegtes Maulkörbchen anzieht. Weil „man“ eben nicht sagt, wie die Dinge sind. Sondern sich schön an die Regeln von Anstand und Moral halten muss – und weil im Zweifelsfall sowieso niemand mit der Wahrheit umgehen kann und will.
Lieber Schönreden, lieber nicht sagen. Lieber dazu gehören und das kleine verlogene Spiel mitspielen, aus Angst vor Regressionen oder Ablehnung.
Sigmund Freud bezeichnete das Zurückhalten von Handlungsweisen, die die gesellschaftliche Ordnung stören könnten, als Regression und meinte damit: Abwehrmechanismus. Längst hat sich das in unserer Sprache niedergeschlagen. Aus Angst vor Ablehnung verschweigen wir unsere ehrlichen und intimen Gedanken und Meinungen.
Direktheit ist nicht mehr angesagt. Direktheit und Ehrlichkeit ist nur erlaubt, wenn der andere es gut heissen kann oder wenn man sich damit positionieren kann.
Aber so ganz direkt sagen, was man fühlt oder denkt, das darf in den meisten Fällen nicht stattfinden oder uns wurde beigebracht, lieber den Mund zu halten und es nicht zu sagen. Auf die Frage: Wie geht’s?“ antworten wir also alle brav: „Gut, und Dir?“, dann kann das Gegenüber erleichtert sagen: „Mir auch!“. Wir wollen nicht konfrontiert werden mit negativen Gefühlen oder Situationen, lieber lügen wir uns alle schön in die Tasche und wahren das Gesicht.
Und so laufen wir alle mit geheimen Gedanken und Gefühlen und spielen dieses eigenartige Spiel um Ausweichen und Verschweigen mit.
Ich weiss es aus eigener leidvoller Erfahrung, dass das krank macht. Obwohl ich mit einem grossen Paket aus Mut gesegnet bin, habe ich auch lange und oft geschwiegen und mich angepasst.
Etwas nicht sagen, was wir spüren, heisst manchmal: Gift trinken und erwarten, dass der andere daran stirbt. Leider funktioniert das nicht.
Besser wäre: Das, was es zu sagen gibt wirklich sagen. Aber es so gewaltfrei wie möglich formulieren. Also nicht: Wenn Du nichts Nettes zu sagen hast, dann sag lieber nichts. Sondern: Wenn Du es nicht nett sagen kannst, dann warte, bis sich deine negativen Emotionen abgekühlt haben und dann sag es freundlich und ehrlich.
Wir müssen alle wieder lernen, ehrlich zu sein. Nur dann haben wir schliesslich die Chance auf Beziehungen, die tief sind und auf einem intimen Fundament stehen.
Ganz ehrlich: Ich weiss nicht, wie gut die Chancen dafür stehen. Wir leben in einer Gesellschaft der Heuchelei.
Kürzlich habe ich mich das erste mal in den sozialen Medien politisch geäussert und bekam einen Shitstorm, weil es sich für eine Therapeutin nicht gehört, sich so zu positionieren. Lieber schön positiv bleiben und auf Chancen hinweisen. Lieber schön an den konstruktiven Ansätzen bleiben. Kann ich auch – ist aber nicht ehrlich.
Xavier Naidoo hat einmal den Begriff „Heiliger Zorn“ geprägt.
Ich denke, jeder von uns darf auch einmal über das Ziel hinaus schiessen und eine Meinung äussern, die nicht mit der Neutralität und Anpassung zusammen passt. Vielleicht wäre es dann gut, die Wortwahl zu treffen, dass es der Nächste gerade noch ertragen kann. Aber: Es muss eine ICH-Botschaft sein.
Wenn Du Deine Gefühle, Gedanken, Eindrücke und Bedürfnisse ausdrücken kannst, ohne deinem Nächsten die Verantwortung dazu zu zuschieben, dann hast Du ein Statement gesetzt, das ehrlich ist und nicht verletzen muss.
Ich habe das gelernt. Auch weil ich mit meinem Lieblingsmann die Abmachung habe, dass wir ehrlich sind. Das ist für uns beide manchmal nicht ganz einfach, aber durch aktives Zuhören und durch das gegenseitige Wohlwollen, das wir einander bedingungslos schenken, ist es möglich. Sich öffnen und dabei freundlich formulieren, das ist eine Lösung für Wahrheit.
Zieh Deinen verbalen Maulkorb aus und äussere Deine Gefühle, auch die, die Dich sonst vergiften würden.
Sich einem anderen ausschütten bis eine Insel entsteht – das wäre Boden zum stehen.
Willkommen in der Adlerperspektive.
Diesen Blog widme ich Nadia, deren Wahrheit ich immer schon schätze und in Liebe meinem Mann Remko, der mir immer wieder Boden zum Stehen gibt.
Hallo meine Liebe,
du sprichst mir aus der Seele 🥰
LikeLike