Da war dieser wirklich interessante Mensch, der einmal in mein Coaching kam vor vielen Jahren. Er erzählte mir von seinem spannenden und bunten Leben, war fröhlich und offenbar mental total gesund. Und dann sagte er mir, er leide an einem ganz eigenartigen Phänomen: Immer wenn er nach Hause käme, wenn er gerade das Auto geparkt und Tasche und Mantel aus dem Kofferraum genommen habe, da käme es: Er fühle bleierne Schwere. Die Schritte bis zum Haus schaffe er noch, aber sobald die Tür aufging und seine Familie ihn begrüsst, spüre er eine enorme Erschöpfung. Das Einzige, an das er dann denke, sei das Sofa und eigentlich würde er am liebsten sofort schlafen gehen.
Natürlich fragte ich ihn nach der Dynamik und Stimmung in der Familie, nach Sorgen und Stressmomenten, aber es schien alles in Ordnung. Auch die Analyse seiner Lebenssituation brachte nichts.
So machte ich mich auf und kam einmal „mit ihm nach Hause“. Ich traf ihn im Büro, wir fahren raus aus der Stadt, in seine schöne Wohngegend. Wir parken das Auto vor der Garage und er sagt: Ja, jetzt spüre ich es schon wieder!
Ich fragte ihn, warum er nicht in der Garage parkte und er sagte: Ach, die sei voll. Ich dachte an Sportgeräte und Bikes, aber als er sie öffnete und ich einen Blick hinein warf sah ich es:
Fahrräder, die repariert oder instand gesetzt werden mussten, ungebündelte Papierberge, Körbe voller Recyclingmaterial, ein Rasenmäher in Einzelteilen, bergeweise Sportkleider und Schuhe, Skier, Snowboards, Wakeboards, Schlauchboot, ein Gasgrill, verdreckt und ein Kohlegrill. Ein Zelt, nicht zusammengefaltet, Kisten vom letzten Umzug, unausgepackt. Die ganze Garage war – voller unerledigter Handlungsabläufe. Alles angefangen und nicht fertig gemacht oder gar nie angefangen. Nichts in dieser Garage war in Ordnung.
Das zog sich so weiter, im Eingangsbereich, im Flur, im Bücherregal. Auch auf seinem Nachttisch stapelten sich Bücher, die Todo Liste für das Wochenende war schon an dem Whiteboard in der Küche. Auf Anfrage erzählte mir die Ehefrau, das stünde nun seit Monaten auf der Liste, inzwischen würde sie niemand mehr beachten. (Entschuldigung, aber Dein Unterbewusstsein sieht es! Du schaust weg, aber Dein innerer Kontrolleur stöhnt auf: DAS muss ich auch noch alles machen!)
Die Familie, vor allem aber mein Coachee, litten an – Aufschieberitis.
Das gibt es echt – und psychologisch gesehen heisst es Prokrastination.
Viele Menschen kennen es von sich selbst, dass sie unangenehme Tätigkeiten – wie das Lernen für Prüfungen, das Schreiben wissenschaftlicher Arbeiten, das Erledigen der Steuererklärung oder Referatsvorbereitungen – lieber aufschieben als sie sofort zu erledigen. Bei manchen Personen nimmt das Aufschieben jedoch ein solches Ausmass an, dass die Betroffenen erheblich darunter leiden und dass schwerwiegende negative Folgen drohen, z.B. der Abbruch einer Ausbildung oder berufliches Scheitern. Ständiges Aufschieben wird von den Betroffenen und ihrer Umgebung oft für persönliche Willensschwäche gehalten oder als Faulheit angesehen. Prokrastination hat jedoch nichts mit Faulheit zu tun und mit solchen Konzepten lässt es sich auch nicht verändern. Vielmehr handelt es sich dabei um ein ernsthaftes Problem der Selbststeuerung.
Die Folgen der Prokrastination sind zwar in vielen Fällen ähnlich, aber es gibt verschiedene prokrastinationsfördernde Faktoren: Probleme in der Prioritätensetzung, mangelnde oder unrealistische Planung, Schwierigkeiten in der Abgrenzung gegen alternative Handlungstendenzen, Defizite im Zeitmanagement oder in der Konzentrationsfähigkeit, Abneigung gegen die Aufgabe, Angst vor Versagen oder Kritik, Fehleinschätzungen der Aufgabe oder der eigenen Anstrengungsbereitschaft und Leistungsfähigkeit.
Prokrastination kann als Teil einer diagnostizierbaren psychischen Störung, wie einer Depression, einer Angststörung oder der Aufmerksamkeitdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS), auftreten. Chronisches Aufschieben beeinträchtigt allerdings auch das psychische Wohlbefinden und kann so selbst zur Ursache für andere psychische Belastungen und Symptome werden.
Im Fall meines Coachees hatte sich schon fast eine Depression entwickelt.
Ich riet ihm sofort damit zu beginnen jeden Tag etwas von den unerledigten Dingen zu tun. Beim gemeinsamen Abendessen klärte ich die Familie über dieses Phänomen auf und lud sie ein, sich gemeinsam daran zu machen, das Chaos zu beseitigen. Schon das Aussprechen der „Diagnose“ führte dazu, dass sich alle direkt an die Arbeit machten. Bereits an diesem Abend begannen sie, das Papier zu bündeln, das Altglas zum nächsten Container zu bringen, die Bücher zum Verschenken auszusortieren.
Ein paar Monate später war der Spuk vorbei und mein Coachee hatte sein dynamisches, fröhliches und freies Leben zurück.
Und nun bist DU dran: Was schiebst Du vor Dir her?
Das kann ganz real das ein oder andere Aufräum- und Ausmist-Projekt sein. Aber auch: Bücher und Zeitschriften die Du immer mal lesen wolltest. Kleider, in die Du jetzt nicht und vielleicht nie mehr passt. Emails die Du schon lange mal bearbeiten wolltest. Ja, sogar Whatsapp oder SMS die Du noch beantworten willst. Gutscheine, die Du noch einlösen könntest, Sparangebote, die Du in Erwägung ziehst. Einreichen der Rechnungen an Deine Krankenkasse, Steuern, Ablage. Papiermist.
Ich schiebe auch meine Steuererklärung ewig vor mir her. Und die Bügelwäsche. Und die Ablage. Aber ich beschränke mir diese kleinen aufgeschobenen Abenteuer auf maximal drei. Dann wächst es mir nicht über den Kopf sondern wartet nur auf einen verregneten Tag.
Was kannst Du SOFORT erledigen?
Was willst Du SOFORT loslassen/entsorgen/verschenken?
Welche Entscheidung triffst Du aus Angst vor den Konsequenzen nicht?
Was lähmt Dich?
Was hast Du im Rucksack und schleppst es mit Dir herum?
Mach Dich frei!
Ein Adler käme niemals auf die Idee mit einem Rucksack zu fliegen, das wäre sein sicheres Todesurteil. Er fliegt frei und ohne Ballast. Und damit hat er die Garantie auf einen schmackhaften Bissen.
Als nächstes kannst Du Dich dann fragen: Was willst Du unbedingt haben?
Ganz einfach: Mach den ersten Schritt, arbeite jeden Tag an Deinen Bergen. Jeden Tag! Wirf weg, verschenke, gib auf, gib an Menschen, die es brauchen. Oder bringe es in Ordnung, wenn Du es wieder brauchen kannst.
Du wirst die frische, leichte Energie sofort spüren.
Willkommen in der Adlerperspektive!
Zum Weiterlesen: „Magic cleaning“ von Marie Kondo