Die Tage hat die Natur dazu beigetragen, dass ich über das Schmelzen und das Frieren nachdenken konnte. Dieses Jahr hatten wir im Tessin viel Schnee. Und er ist noch immer da, an den Schattenstellen. Lange war der Schnee angefroren an den Boden, zum Teil eine spiegelglatte Fläche, die man kaum überwinden konnte. Das Laufen wurde mühsam und gefährlich und ich war nicht glücklich über die vielen eiskalten Morgenstunden mit dem Hund draussen, am zugefrorenen Fluss. Der Fluss, den ich im Sommer so gerne zu meiner Badewanne gemacht hatte, war jetzt kalt und überall war Eis. Dazu die Pfützen mit Schmelzwasser vom Tag zuvor – wieder steinhart zugefroren.
Sind nicht auch wir manchmal wie zugefroren, erstarrt?
Wie oft habe ich in den letzten Jahren von meinen Coachees den Satz gehört: Das hat mein Herz zum Schmelzen gebracht! Der Mensch bringt mich zum Schmelzen! Diese Musik schmelzt mein Herz! Achhh bei dieser Poesie schmelze ich wie Butter in der Sonne!
Wunderbar, dieses Schmelzen, das Zerfliessen. Das darf ich auch immer wieder erleben, dieses Auflösen von allem, was man zuvor festgehalten – oder eingefroren – hat. Und doch –
warum frieren wir unser Herz so oft ein, dass wir es immer wieder schmelzen lassen (müssen)? Oder wer oder was bringt uns dann zum Schmelzen?
Eine Berührung? Ein Wort? Ein Musikstück, ein Augenblick? Ein Lächeln?
Ein Kind? Ein glückliches Wesen? Ein Liebesbekenntnis? Unsere Lieblingstiere, Lieblingsmenschen? Filme, Poesie, Kunst? Erotik und Sinnlichkeit? Etwas, das wir gerne berühren? Etwas, das auf unserer Zunge zergeht?
Ich beobachte die Natur. Ein Ein- und Ausatmen ist es, dieses Schmelzen.
Den Tag über, bei Sonne, fliesst alles und taut und dringt in die Erde ein, am Abend zieht es an, verschliesst die Poren, erfriert erneut, wird steinhart und starr. Und am nächsten Tag beginnt der Tanz der Elemente aufs Neue.
Das erinnert mich an ein Stück Poesie, das ich vor vielen Jahren las:
Irrtum
Und mit der Liebe, sprach er, ist’s
wie mit dem Schnee: fällt weich
mitunter und auf alle –
aber bleibt nicht liegen.
Und sie darauf, die Liebe ist
ein Feuer, das wärmt im Herd
verzehrt wenn’s dich ergreift
muss ausgetreten werden.
So sprachen sie und so griff
er nach ihr, sie schlug’s nicht aus
und blieb auch bei ihm liegen.
Er schmolz, sie ward verzehrt
sie glaubten bis zuletzt an keine Liebe
die bis zum Tode währt.
(Ulla Hahn)
Es scheint auch in unserer Natur zu liegen, zu schmelzen, zu erstarren, wieder zu schmelzen. Betrachten wir uns als Teil der Natur, so ist es nur eben dies – die Pole immer wieder neu zu bestimmen, von warm nach kalt, von Nacht nach Tag, von Dunkel ins Licht, die Dualität, der Rhythmus, das Atmen, ein und aus, aus und ein.
Ganz natürlich, nicht wahr?
Könnte es uns nicht einfach glücklich machen, dass wir immer wieder schmelzen können?
Oder streben wir nach dem Warmsein, dem Immerwarmsein?
Na, ich sag mal so: Lauwarm ist auch kein echtes Leben. Da halten wir es doch lieber wie die Adler: Immer wieder alles rein geben. Immer wieder die Pole verschieben. Auf Leben und Tod.
Willkommen in der Adlerperspektive.