Wie oft habe ich mir in den letzten Jahren diese Frage gestellt: Wie kann ein Mensch das überleben? Ich hatte Geschichten meiner Coachees, manchmal auch von Bekannten, gehört über einen richtig heftigen Schicksalsschlag. Und sass meist fassungslos vor ihnen und staunte: Wie kann ein Mensch das überleben?
Dabei ging es keineswegs um Abenteuer oder Unfälle, Naturkatastrophen oder Krankheiten.
Es ging um Gemeinheiten. Es ging um das Verhalten anderer Menschen, um Verfehlungen im Umgang, um seelische Grausamkeiten, manchmal auch um emotionale, psychische und physische Gewalt.
Vor einigen Jahren kam eine wunderbare sanfte schöne Frau zu mir, die mir von ihrer gewalttätigen Kindheit erzählte. Es war so grausam, dass ich Mühe hatte, mir die Schilderungen auch nur anzuhören. Aber da sass sie vor mir, die Überlebende. Sie berichtete es auf eine Art, die reflektiert und ruhig war und sie mutete mir nur gerade so viel zu, wie ich ertragen konnte. Ich sah sie an. Der Kopf war nicht gebeugt, der Blick nicht schmerzlich getrübt, die Haltung nicht eingesunken sondern aufrecht. Und ich staunte über sie. Sie war nicht gebrochen. Sie war gewachsen.
In der Folge beschäftigte ich mich mit dem Phänomen des Überlebens. Vor allem: dem psychischen. Was macht Menschen stark? Warum schaffen einige den Ausweg aus einer solchen Situation als ganzer Mensch, andere in alle Stücke zersprungen?
Überleben wollen ist ein Selbsterhaltungstrieb, der mich schon bald verblüfft hat. Ganz tief, am Abgrund des Leids, gibt es einen Boden, auf dem man zu stehen kommt: Der Wunsch nach Weiterleben. Und dann kommt der lange Aufstieg nach oben, der aus Selbstdisziplin, Ritualen, Motivation, innerer Stärke, Akzeptanz, Verzeihen, Annehmen, Weitergehen besteht. In einigen entsteht dann fast schon eine Euphorie, jetzt erst recht weiterzuleben und besser als vorher, stärker als vorher.
Menschen nehmen ihr Schicksal irgendwann an, weil es eben zum Leben dazu gehört. Die junge Frau, die mir ihre Geschichte offenbarte, hat erkannt, dass das eben nur ein Teil ihrer Geschichte ist und nicht das ganze Leben. Sie beschloss, damit zu leben, es zu integrieren, es als Baustein ihres starken Selbst anzunehmen. Denn diese Stärke war es, die ihr geholfen hat, aus dem Leiden heraus zu treten. Viele Stunden Coachingarbeit später stand sie auf einem Stein in einem Fluss und rief laut: Ich bin frei! Ich bin hier! Ich bin Liebe! Ich bin Freude!
Vergangene Woche war ich dort wieder unterwegs am Fluss und sah diese Fluss-Steine, die Zeuge wurden von einem epischen Moment: Als eine Überlebende sich selbst dafür feiern konnte, diese riesige Hürde genommen zu haben.
Jahre später bekam ich einen Anruf von einer trauernden Frau, die ihre Familie verloren hatte.
Auch sie wollte überleben und fragte mich um Coachingbegleitung an. Hier lag das Magische: Sie hatte sich zu einem Schritt entschlossen und sei es auch nur der Schritt um Hilfe zu bitten. Das war der Aufbruch, der Beginn des Überlebens.
Wir mussten den ganzen Weg zurück gehen, an den Ursprung des Menschseins: Essen, trinken, schlafen. Sich erlauben „trotzdem“ wieder Hunger zu haben und zu essen. Sich erlauben „trotzdem“ die Dusche nach einem heissen Tag zu geniessen. Sich erlauben „trotzdem“ etwas zu kochen, sich etwas Gutes zu tun. Später: „trotzdem“ wieder zu lächeln. „Trotzdem“ wieder eine Umarmung, ein Wort, eine Geste eines anderen anzunehmen. Aus dem „Trotzdem“ als Strategie wurde nach vielen Monaten die Autonomie des eigenen Lebens.
Wenn etwas geschieht oder geschehen ist, das unser gesamtes Menschsein, unser Leben, unser Bild von Leben radikal erschüttert hat, dann sind wir gewissermassen in der eigenen Wildnis unterwegs. Fern von jeder Sicherheit, fern von allem, an dem wir uns fest halten können. Es hat etwas von Einsamkeit, von vollständiger Stille und Stillstand. Man steht an diesem einen Punkt und es scheint in keine Richtung mehr eine Bewegung möglich.
Aber die Bewegung kommt. Der erste Schritt bringt uns zurück ins Leben. In diesem Moment, wenn der erste Schritt gemacht wird, beginnt eine neue Reise. Ein Lebensweg trotz dem, was uns zugestossen ist.
Und hier kommt vielleicht der wichtigste Punkt dieses Beitrags: JEDEN Tag überleben wir. Jeden Tag kommt so ein Moment, an dem wir denken: Und wie jetzt weiter? Und jeden Tag machen wir diese erste Bewegung in die richtige Richtung.
Denke diese Woche auch einmal an Dein Überleben. Was hat Dich in der Vergangenheit erschüttert? Was war der Punkt an dem Du dachtest: Ich kann nicht mehr weiter?
Wo waren sie, die Brüche und Risse in Deiner Geschichte? Und was hast Du als Erstes getan, als es passiert ist? Und dann? Und dann?
Fühle die Euphorie, dass Du etwas Grossartiges geschafft hast. Und zwar ganz aus eigenem Antrieb. Das Leben hilft immer weiter. Nichts bleibt jemals stehen. Nichts geht jemals zuende.
Mach aus Deinem Überleben ein Leben. Geniesse. Geh weiter, freue Dich.
Jeden Tag einen Schritt.
Willkommen in der Adlerperspektive.
Dieser Blog ist für Rose. Ich verneige mich vor Dir.
Und für all diejenigen, die den ersten Schritt gemacht haben und wieder aufgeblüht sind.
