Vom Häuten der Libellen

Ich habe einen Coachee, der regelmässig Sauerstoff braucht. Nicht das, was man hinlänglich damit meint, es ist vielmehr mentaler Sauerstoff. Ein bisschen geht im die Geduld aus. Und wenn es dann wieder knapp wird, weil seine Nerven in eisigen Höhen unterwegs sind, dann braucht er eine Sauerstoffladung, die ich ihm dann schicken kann. Der Prozess, durch den er geht, ist nicht einfach und verlangt ihm viel ab. Aber er geht. Schritt für Schritt. Atmen.

Lieber würde er voran stürmen und den Gipfelerfolg feiern, aber wir sind im mühsamen Weg nach oben.

Wenn ich diesen schönen und warmherzigen Menschen betrachte, dann denke ich an die Geschichte der Libellen.

Libellen, die letzten Drachen, werden ebenso wie ihre verwandten Artgenossen, die Schmetterlinge, aus einer Raupe geboren.
Die Libelle geht durch eine einzigartige Metamorphose. Als Metamorphose bezeichnet man die Abwandlung in Gestalt und Lebensweise eines Tieres im Laufe seiner Individualgestaltung. Die Larven einer Libelle häuten sich 8 bis 14 mal im Wasser, bis sie eines Tages aus dem Wasser klettern, meist bei schönem Sonnenschein, und sich dort an Land auf die nächste Entwicklungsstufe begeben. Während der nächsten Stunde atmet sie ein und füllt ihren Concon mit Sauerstoff, um die Hülle, die sie bis jetzt geschützt hat, zum Aufplatzen zu bringen. Jetzt schiebt sie sich heraus. Ein mühsames Unterfangen, bei dem die Libelle immer wieder Pausen einlegen muss.

Zu diesem Zeitpunkt hängt da ein recht hässliches Etwas, was noch meilenweit von der Schönheit und Grazie einer fertigen Libelle entfernt ist. Nach einigen Stunden ist sie nun trocken, zunächst blass und schwach, und startet zu ihrem Jungfernflug. In den nächsten 14 Tagen wird sie schillernde Schönheit gewinnen und Magie und Staunen bei ihren Beobachtern auslösen.

Würde man in diesen Geburtsprozess eingreifen und der Libelle aus der Hülle helfen wollen, so würde das Sekret, das sie zum Herauswinden braucht, an ihren Flügeln kleben und nicht, wie unbedingt nötig, mit der Larve zurück gelassen werden. Die Libelle würde niemals fliegen und während der Neugeburt sterben.

Was tue ich nun mit meinem Coachee? Ich muss ihm die Geschichte der Libelle erzählen, vielleicht wieder und wieder. Weil es eben ganz viele Komponenten braucht in der Entwicklung. Die mühsame Arbeit, wenn man die ganzen schützenden Häute abstreift. Dann das Klettern auf neues Terrain, auf dem man sich noch nicht auskennt. Dann das Aufblasen des Concons, damit er von dem neuen Leben weichen kann. Der Jungfernflug, die Zeit um die Farben zu bekommen.


Jede Phase in einem Prozess muss in Ruhe reifen. Wenn es ein schwerer Prozess ist, durch den ein Coachee geht, braucht es unendlich viel Geduld. Die vielen kleinen Schritte bis zum Flug sind oft nicht gut zu sehen. Von Aussen betrachtet sieht es gar nicht nach Entwicklung aus. Und doch tut sich etwas. Sehr langsam. Mühsam langsam. Aber: Die Libelle wird fliegen. Wenn man ihr Zeit lässt sich von Altem zu befreien, in dem Neuen zurecht zu finden. Wenn man warten kann, bis sie den Concon von alleine sprengt weil sie erkennt, das jetzt die neue Lebensphase beginnt.

Geduld ist auch nicht meine Tugend und war es nie. Wie gerne würde ich meine Klienten aus der Larve ziehen. Einen schnellen scharfen Schnitt machen und sie wie eine Hebamme ins schöne sonnenbeschienene leichte Leben transformieren. Aber auch ich muss warten. Noch eine Haut, noch eine Haut…. und dann auf den Stein und jetzt gut zureden: „Komm raus aus Deinem Gefängnis, die Welt ist schön und wartet auf Dich!“

Zunächst werde ich meinen Sauerstoff Lastwagen vor seinem Haus deponieren.
Geduld.

Bald fliegt sie, die Libelle.

Sei geduldig mit Dir und anderen. Wir sind alle auf dem Weg.


Willkommen in der Adlerperspektive.

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