Vom Loslassen und Finden

Heute Nacht kam der Regen. Lange ersehnt. In riesigen Mengen. Im Tessin fliesst der Regen nicht, er fällt. Sofort gibt es ganze Flüsse durch die bergige

Landschaft und nimmt alles mit, was sich nicht länger festhalten kann, den Staub, die Pollen und abgefallenen Blüten, die restlichen Blätter, bald auch Erdstücke und kleine Steinchen. Alles fliesst bergab. Sammelt sich in kleinen Pfützenseen oder verebbt, so wie heute, denn es ist seit Wochen und Monaten ausgetrocknet gewesen. Das erholsame Wasser versickert und die Erde macht feine Geräusche, wenn sie es aufsaugt. Eigentlich ist es wunderschön.

Das führte mich zum Thema der Woche, ein Thema, das mir letzte Woche so viele Male begegnet ist. Loslassen. Ein schwieriges, weil schmerzhaftes Thema. Ich kenne fast niemanden, der gerne etwas loslässt. Wir verharren alle und halten das, was wir lieben, wollen nicht aufgeben, es nicht hergeben, es nicht opfern.

Aber das Leben bewegt sich und zwingt uns immer wieder loszulassen. Das geht mit dem Loslassen des sicheren Bauchs unserer Mutter los und geht immer weiter. Und immer ist es scheinbar die Sicherheit, die wir loslassen. Die Sicherheit des Krabbelns, die Sicherheit der Hand, an der wir laufen lernen, die Sicherheit des Hauses, wenn wir es verlassen. Später Freundschaften, Umzüge aus der gewohnten Umgebung, Schulwechsel, unsere Unschuld, unser naiver Glaube an den Weihnachtsmann, die Rituale, die geliebten Menschen um uns, wieder Umzüge, Vertrautes wird losgelassen. Manchmal lassen wir mit Lust los, was mir nicht mehr haben möchten. Manchmal entreisst uns das Leben das Unfassbare, das Geschätzte und Geliebte. Eine Aneinanderfolge von Abschieden. Die Hände öffnen sich und lassen los. Der Kopf und das Herz hinkt oft hinterher.

Meinen ersten Blog, Februar 2018, schrieb ich über den Liebeskummer. Das schmerzhafteste Loslassen. Und dann die Abschiede durch den Tod von Menschen nicht zu vergessen.

Diese Tage müssen wir alle, alle viel loslassen. Die gewohnten zauberhaften Rituale, die Umarmungen und Küsse, die Pläne für die nächsten Tage, Wochen, Monate. Die Reisen. Vielleicht auch: Unsere berufliche Existenz. Den kleinen Laden, den wir so gerne mochten. Die vertraute Atmosphäre in unserem Lieblingscafe, unser Wiedersehen mit liebgewonnenen Menschen aus dem Ausland. Die Liste ist lang.

Wie kommen wir zurecht mit diesem Loslassen?

Was tut es mit Dir?

Siehst Du es als Strafe? Als Eingriff in Deinen Lebensplan?

Oder als Neuanfang?

Es ist schwer, neu anzufangen. Es braucht viel Mut und Kraft und Durchhalten und Weitermachen. Wieder aufstehen. Wieder und wieder. Neu anfangen. Neue Pläne, die vielleicht auch nicht aufgehen werden.

In der vergangenen Woche haben mich zwei Menschen schwer beeindruckt. Eine liebe Freundin, die seit Monaten um eine friedliche Lösung gekämpft hat und in der auf der gegnerischen Seite immer neue Spielkarten ins Spiel gebracht wurden, die sie in die Knie zwangen. Da schrieb sie mir: Ich lasse das jetzt total los.

Und mein Bruder, einer, der beruflich Pläne schmiedet und abarbeitet. Ich fragte ihn, wie er mit all der Unsicherheit umgeht, die die momentane Situation bietet, und er antwortete: Ich segle auf Sicht.

Einen Schritt nach dem Anderen. Einen Schritt nach dem Anderen. Wir schauen oft zu weit nach vorne. Wir erwarten Dinge, wie sie sich entwickeln sollen. Wir planen eine chronologische Abfolge, wie etwas gehen muss. Und dann stehen wir plötzlich mit leeren Händen da. Was tut es mit uns?

Ich habe dieses Jahr von allen Plänen den ultimativ schönsten Plan gehabt. Alles wochenlang arrangiert, genügend Mitspieler an Bord, auf die ich mich sehr gefreit habe, die richtige Location gefunden, die Reise geplant, die Spiele vorbereitet. Und dann – puffff – war es weg. Abgesagt, unmöglich, das durch zu führen. Einen Tag habe ich meine Herzenswunde geleckt und dann weiter gelebt. Warum? Weil es keine andere Wahl gibt. Und weil mir mein Loslassen meistens ein sehr viel grösseres Glück brachte.

Wir können nicht den Kopf in den Sand stecken, wenn etwas nicht so geht wie wir es uns vor – gestellt haben. Denn im Sand sehen wir erst recht nichts!

Heben wir also die Augen und schauen auf das, was sich uns bietet, wenn alles weg geflossen ist.

Hier im Tessin: Üppiges Grün. Fruchtbares Land. Neue Blumen. Atmende Erde, die köstlich riecht. Und auf den Gipfeln neue kleine Schneekleckse. Schönheit pur.

Zum Schluss dieses nicht sehr beliebten Themas noch eine Geschichte, die Hoffnung machen soll: Vor vielen Jahren hatte ich eine sehr resolute und selbstbestimmte alte Lady in der Therapie. Eines Tages bekam sie die Diagnose Krebs in weit fortgeschrittenem Zustand. Die Ärzte gaben ihr allenfalls noch ein paar Wochen zu leben. Sie brachte ihre Dinge in Ordnung, veranstaltete eine letzte wilde Party (die Dame war über 80 aber ein Leben lang ein Hippie gewesen). Dann „buchte“ sie ein Ticket ins Jenseits mit Exit. Der freundliche Herr kam mit dem Gift, das sie zu diesem Zeitpunkt gerade noch selbst schlucken konnte. Ihr Sohn war dabei, als sie ihre letzten Worte sprach. Er hat sie mir mit einem Lächeln erzählt. Meine liebe Kundin nahm den Becher in die Hand und bevor sie ihn trank sagte sie: „Jetzt bin ich aber mal gespannt“.

Sei mutig beim Loslassen. Du weisst niemals, was als nächstes passiert.

Vielleicht etwas, mit dem Du nicht rechnen konntest weil Du es nicht gesehen hast. Der Kopf muss eben aus dem Sand gezogen werden.

Willkommen in der Adlerperspektive.

 

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2 Gedanken zu “Vom Loslassen und Finden

  1. Ingrid

    Liebe Maren
    Das hat mich jetzt sehr berührt. Da sprach eine Seele und ein Herz zu meinen. Danke für die schöne und so passend klare Worte. Danke für die Inspiration. Immer wieder…

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  2. Nadia Schwingruber

    Und wenn du nichts mehr halten kannst, kommt ein Blog von Maren und gibt neuen Mut. Danke dir herzliche fürs Teilen, das ist ein Geschenk.

    Umarm dich herzliche aus der Ferne.
    Nadia

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